(Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Teil 5, 1984, S. 246)
Aber dieser ganz im Heute sich bewegenden Malerin, Natascha Schmitten, die mancherlei Impulse aus der Vergangenheit aufgenommen haben mag, ob etwa von Tiepolo aus dem 18. Jahrhundert oder aus dem 20. von K.O. Götz, dürfte es kaum um ein vordergründiges "l‘ art pour l‘ art" (allein um der Kunst willen) gehen.
Das reiche Spektrum der Assoziationen – und das ist ein wichtiger Teil ihres Potenzials – das ihre Arbeiten entfachen, ob aus dem mikro- oder makrokosmischen Bereich (denken Sie z. B. an das Phänomen der Polarlichter), könnte aber auch an Schillers "Das verschleierte Bild zu Sais" erinnern.
Dort liest man den Vers: "Wer diesen Schleier hebt, soll Wahrheit schauen?
Sei hinter ihm, was will! Ich heb‘ ihn auf."
Welche Wahrheit da schließlich gefunden wird, ist nicht zu rubrizieren oder zu etikettieren und bemisst sich vor allem nach der Qualität jedes einzelnen Betrachters. Es ist wie bei jenem legendären spanischen Gasthaus: Der Gast bekommt nur, was er mitgebracht hat.
Für die spezifische Wirkung der Gemälde von Natascha Schmitten ist ihre Technik von Bedeutung. Sie malt nicht auf Leinwand oder Nessel, sondern auf dem synthetischen Material Nylon. Dieses benutzt sie manchmal auch als Druckfläche für Ihre Lithographien (Steindrucke).
Ihr Malmaterial ist Ölfarbe und Tusche, eine ungewöhnliche Kombination, aber sehr wirksam. Dabei trägt sie Farben nicht pastos auf, vielmehr in vielen Schichten von Lasuren, eine schon im späten Mittelalter gebräuchliche Technik. Dadurch verleiht sie ihren Farben eine besondere Fülle und leuchtende Tiefe, aber auch transparente Effekte.
Nicht zuletzt dank ihres ständigen Experimentierens haben viele ihrer Gemälde eine überaus lebendige Frische. Bei unserem Atelierbesuch erzählte sie, dass das zuletzt entstandene große Bild dadurch besonders spannend für sie sei, weil die Nylonfläche partienweise ohne die übliche Grundierung blieb.
Obgleich ganz aus der Fläche entwickelt und zugleich mit nicht bestimmbarer Räumlichkeit ausgestattet, fehlt es diesen Gemälden auch nicht an "Körperlichkeit". Aber die pulsierenden Farbbahnen und -flächen vermitteln nichts von plastischer Verfestigung, oft erscheinen sie wie aufleuchtende oder verdämmernde Phänomene auf dem Bildschirm. Und was sie trägt, ist eine klare "Handschrift", das ausponderierte Spiel der Kräfte, der Flächen und Linien, der kalten und warmen, der komplimentär oder anders zusammen klingenden Farbwerte.
Auffälliges Kriterium ihrer Malerei und deren Qualität ist die natürliche Leichtigkeit. Wie anders sind doch die Arbeiten des vor zwei Jahren in sehr hohem Alter (103) verstorbenen K.O. Götz, gesteuert aus purem Wollen und etwas Zufall. Demgegenüber scheint die Kunst von Natascha Schmitten einer ganz und gar natürlichen Quelle zu entspringen, wohl nicht nur Ausdruck einer anderen Zeit.
Während die Gemälde trotz mancher natürlicher Querbezüge entschieden Einzelstücke sind, entstehen bei den Lithographien doch auch Serien. Mit ihren malerischen Möglichkeiten kommt diese Flachdrucktechnik der Künstlerin sehr entgegen, zumal sie selbst gerne den Druck nicht nur kontrolliert, sondern auch durchführt. Sonderbar ist dabei allerdings, dass sie keine Auflagen druckt.
So ist jedes lithographische Blatt (manchmal auch Nylon) ein Original. In ihrem Schaffen hat das Singuläre eindeutig Vorrang vor jeglicher Art von Masse.
Im Französischen gibt es das Wort: "Le style c‘ est l‘ homme." (d. h. Der Stil ist der Mann). Diese treffliche Bemerkung von Pascal, die zweifellos auf den Künstler August Macke zutraf, muss aber hier und heute lauten: "Le style c‘ est la dame."
Erlauben Sie mir abschließend noch eine Feststellung, die für gute Kunst immer gilt. Neulich las ich bei Golo Mann: "Was ich von Jaspers lernte, dass der Mensch immer mehr ist, als er selber von sich wissen kann, daher er sich selber durch sein Tun immer wieder überraschen kann." (Erinnerungen und Gedanken, 1968, S. 329) Entsprechend wünsche ich Frau Natascha Schmitten, dass sie – und damit auch wir – noch viele Überraschungen durch ihre Malerei und Druckgraphik, ob mit oder ohne öffentliche Anerkennung, erleben darf.