Laudatio von Dr. Hans M. Schmidt

Liebe Natascha Schmitten, um Sie geht es heute.

Meine sehr verehrten Damen, meine Herren!

Nehmen Sie bitte die folgenden Beobachtungen und Gedanken als kleine Ouvertüre zu Ihren eigenen

künftigen Erlebnissen und Erfahrungen mit der tatsächlich bemerkenswerten Kunst von Natascha Schmitten. Zugleich ist dies hier für uns seitens der Douglas Swan-Stiftung die Erklärung, warum wir ausgerechnet dieser Künstlerin – unter einer heutzutage ständig steigenden Zahl  herausragender Künstlerinnen – den diesjährigen Förderpreis zuerkennen.

Es fällt übrigens nicht schwer, was ich nicht weiter ausführen will, zwischen ihrem Schaffen und dem Werk des im Jahre 2000 in Bonn verstorbenen schottischen Malers Douglas Swan prägnante Bezugsmomente festzustellen.

Bevor wir uns der Kunst, hier nur andeutungsweise durch wenige Arbeiten als pars pro toto präsent, zuwenden, kurz ein paar biographische Fakten zur Vorstellung der Künstlerin.

Die heute in Köln lebende Malerin Natascha Schmitten wurde 1986 in Bonn geboren; aufgewachsen ist sie in der Bonner Region und in der Eifel. Sie studierte 2006 – 2014 an der Düsseldorfer Akademie, seit 2012 als Meisterschülerin bei Siegfried Anzinger. 2011 war sie "artist in residence" in London.

Zahlreiche Einzel- und Gruppenausstellungen folgten, doch frühzeitig auch schon eine Reihe von Stipendien und Auszeichnungen. Zuletzt erhielt sie im Juni vergangenen Jahres in Wien den "STRABAG Artaward  International". Ich muss hier betonen, dass sie unabhängig davon und schon vorher für den Douglas Swan-Preis (in Konkurrenz mit einer Reihe anderer guter Künstler) ausgeguckt war.

In der so vielfältigen und – wie kann es anders sein – überaus individualistischen Malerei unserer Zeit (das Panorama zwischen Gerhard Richter, Neo Rauch, Daniel Richter und Katharina Grosse etwa will ich nicht näher definieren) hat die junge Kunst von Natascha Schmitten ein neues Profil oder – neuhochdeutsch – "image"  hervorgebracht.

Ihre Gemälde, in denen sie eine große Bandbreite der Formate bewältigt, vom miniaturartig kleinen, intimen Bild bis zum wandbildartig monumentalen und öffentlichen Werk im Museumsformat, und die eine große Skala der Farbstimmungen (von nachtschwer, tief dunkel bis hell, himmelhoch jauchzend) und der Ausdrucksgestik veranschaulichen, sind auf den ersten Blick abstrakt, ungegenständlich. Kunst braucht Zeit; wer länger hinschaut, hat mehr davon. So entdeckt man plötzlich in ihren Gemälden ein menschliches Profil oder Gliedmaßen, einen Arm, eine Hand oder auch Dingliches, gewissermaßen "Fundstücke", die wie Schlüssel  zu unbekannten Türen wirken.

Zweifellos sind manche Bonner überrascht, wenn sie in der großen Bronzeskulptur von Tony Cragg auf dem Römerplatz plötzlich menschliche Gesichtsprofile entdecken. So gilt in der Kunst von Natascha Schmitten kein "entweder-oder", sondern vielmehr das kluge "sowohl-als-auch". Das wäre gewiss einer der Bezugspunkte zu den Arbeiten von Douglas Swan.

Aber die Bilder, die wie mit vielschichtig und nicht wirklich greifbaren Schleiern  oder Stoffbahnen das eigentümlich schwebende Gefüge ihrer Form konstituieren, mit ihrem klaren und entschiedenen Duktus, und zunächst wie eine freie Improvisation (man denke an Jazz oder kühne Orgelmusik) anmuten, locken die Phantasie des Betrachters in ein Abenteuer des Sehens. Die dann erkennbaren figurativen Details, zunächst rätselhaft wie auch die Titel einzelner Gemälde ( ob "Solero", "Primavera" – mit Bezug zu Botticellis Gemälde in Florenz – mit Blick auf Velasquez "The temptation of  St. Thomas Aquinas" oder schlichtweg "glance"), können den schauenden Betrachter zum Komplizen der Künstlerin machen. Was der aufmerksamen Wahrnehmung nicht entgeht, sind: teils recht schwungvolle, angehaltene Malgesten, Fragmente, die wie in einem feinen Magnetfeld in der Balance gehalten werden. Dazu gehören bei aller fließenden Dynamik, die möglicherweise Heraklits "Panta Rhei"  (d. h. Alles fließt) in Erinnerung rufen mag, auch scharfe Brüche, Kanten und – filmisch gesehen – Schnitte, die das dramatische Spiel der Farbsetzung zu steigern vermögen.

Natascha Schmitten holt mit ihrem artistischen Talent, das Assoziationen an Tanz und Musik provoziert, den Betrachter sehr nahe an das malerische Geschehen, an den Prozess der Bild-Formulierung heran.

Dabei kann sich dann ergeben, was Marcel Proust zu Vermeers "Ansicht von Delft" schreibt: "eine kleine gelbe Mauerecke (……), die so gut gemalt sei, dass sie allein für sich betrachtet einem kostbaren chinesischen Kunstwerk gleichkomme, von einer Schönheit, die sich selbst genüge ….".
(Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Teil  5, 1984, S. 246)

Aber dieser ganz im Heute sich bewegenden Malerin, Natascha Schmitten, die mancherlei Impulse aus der Vergangenheit aufgenommen haben mag, ob etwa von Tiepolo aus dem 18. Jahrhundert oder aus dem 20. von K.O. Götz, dürfte es kaum um ein vordergründiges "l‘ art pour l‘ art" (allein um der Kunst willen) gehen.

Das reiche Spektrum der Assoziationen – und das ist ein wichtiger Teil ihres Potenzials – das ihre Arbeiten entfachen, ob aus dem mikro- oder makrokosmischen Bereich (denken  Sie z. B. an das Phänomen der Polarlichter), könnte aber auch an Schillers "Das verschleierte Bild zu Sais" erinnern.

Dort liest man den Vers: "Wer diesen Schleier hebt, soll Wahrheit schauen?
Sei hinter ihm, was will!  Ich heb‘  ihn auf."

Welche Wahrheit da schließlich gefunden wird, ist nicht zu rubrizieren oder zu etikettieren und bemisst sich vor allem nach der Qualität jedes einzelnen Betrachters. Es ist wie bei jenem legendären spanischen Gasthaus: Der Gast bekommt nur, was er mitgebracht hat.

Für die spezifische Wirkung der Gemälde von Natascha Schmitten ist ihre Technik von Bedeutung. Sie malt nicht auf Leinwand oder Nessel, sondern auf dem synthetischen Material Nylon. Dieses benutzt sie manchmal auch als Druckfläche für Ihre Lithographien (Steindrucke). 

Ihr Malmaterial ist Ölfarbe und Tusche, eine ungewöhnliche Kombination, aber sehr wirksam. Dabei trägt sie Farben nicht pastos auf, vielmehr in vielen Schichten von Lasuren, eine schon im späten Mittelalter gebräuchliche Technik. Dadurch verleiht sie ihren Farben eine besondere Fülle und leuchtende Tiefe, aber auch transparente Effekte.

Nicht zuletzt dank ihres ständigen Experimentierens haben viele ihrer Gemälde eine  überaus lebendige Frische. Bei unserem Atelierbesuch erzählte sie, dass das zuletzt entstandene große Bild dadurch besonders spannend für sie sei, weil die Nylonfläche partienweise ohne die übliche Grundierung blieb.

Obgleich ganz aus der Fläche entwickelt und zugleich mit nicht bestimmbarer Räumlichkeit ausgestattet, fehlt es diesen Gemälden auch nicht an "Körperlichkeit". Aber die pulsierenden Farbbahnen und -flächen vermitteln nichts von plastischer Verfestigung, oft erscheinen sie wie aufleuchtende oder verdämmernde Phänomene auf dem Bildschirm. Und was sie trägt, ist eine klare "Handschrift", das ausponderierte Spiel der Kräfte, der Flächen und Linien, der kalten und warmen, der komplimentär oder anders zusammen klingenden Farbwerte.

Auffälliges Kriterium ihrer Malerei und deren Qualität ist die natürliche Leichtigkeit. Wie anders sind doch die Arbeiten des  vor zwei Jahren in sehr hohem Alter (103) verstorbenen K.O. Götz, gesteuert aus purem Wollen und etwas Zufall. Demgegenüber scheint die Kunst von Natascha Schmitten einer ganz und gar natürlichen Quelle zu entspringen, wohl nicht nur Ausdruck einer anderen Zeit.

Während die Gemälde trotz mancher natürlicher Querbezüge entschieden Einzelstücke sind, entstehen bei den Lithographien doch auch Serien. Mit ihren malerischen Möglichkeiten kommt diese Flachdrucktechnik der Künstlerin sehr entgegen, zumal sie selbst gerne den Druck nicht nur kontrolliert, sondern auch durchführt. Sonderbar ist dabei allerdings, dass sie keine Auflagen druckt.

So ist jedes lithographische Blatt (manchmal auch Nylon) ein Original. In ihrem Schaffen hat das Singuläre eindeutig Vorrang vor jeglicher Art von Masse.

Im Französischen gibt es das Wort: "Le style c‘ est  l‘ homme." (d. h. Der Stil ist der Mann). Diese treffliche Bemerkung von Pascal, die zweifellos auf den Künstler August Macke zutraf, muss aber hier und heute lauten: "Le style c‘ est la dame."

Erlauben Sie mir abschließend noch eine Feststellung, die für gute Kunst immer gilt. Neulich las ich bei Golo Mann: "Was ich von Jaspers lernte, dass der Mensch immer mehr ist, als er selber von sich wissen kann, daher er sich selber durch sein Tun immer wieder überraschen kann." (Erinnerungen und Gedanken, 1968, S. 329) Entsprechend wünsche ich Frau Natascha Schmitten, dass sie – und damit auch wir – noch viele Überraschungen durch ihre Malerei und Druckgraphik, ob mit oder ohne öffentliche Anerkennung, erleben darf.